Experteninterview: Andreas Gruber


In unserem heutigen Interview teilt Andreas Gruber- langjähriger Leiter eines Seniorenpflegeheims und Gründer der Austria Assisted Living GmbH in Österreich seine fundierten Einblicke in die Pflegebranche und die drängenden Herausforderungen, die sich im Zuge des anhaltenden Personalmangels ergeben und betont die essentielle Rolle innovativer Technologien. Mit leidenschaftlicher Überzeugung unterstreicht er die Notwendigkeit, Pflegefachkräfte zu entlasten und gleichzeitig die menschliche Interaktion zu stärken. Seine fesselnden Erfahrungen mit digitalen Assistenzsystemen und die dringende Notwendigkeit einer besseren finanziellen Unterstützung für den Pflegebereich bieten tiefe Einblicke in die Zukunft der Altenpflege.




1. Welche Lösungsansätze sehen Sie für die Pflege, welche den Personalmangel
auffangen und Pflegekräfte entlasten können?

Ich bin als einer von wenigen Erwachsenen in Österreich in einem Seniorenpflegeheim groß geworden (weil meine Eltern eines geleitet haben) und habe dieses Pflegeheim nach meinem Studium 11 Jahre lang geleitet. Während dieser Zeit habe ich mich schon immer mit der Frage beschäftigt, wie die Pflegemitarbeiter:innen in ihrer anspruchsvollen Tätigkeit unterstützt und entlastet werden können und wie gleichzeitig den Bewohner:innen mehr Sicherheit
zukommen kann. Technische Unterstützung war für mich schon immer spannend
und ich habe mich seit ca. 2010 intensiv mit dem Thema beschäftigt. Damals
kamen die ersten AAL-Ideen auf den Markt – aber damals war es einfach noch zu
früh dafür.
Dass nun der Pflegefachkräftemangel so durchschlägt bzw. sinnvolle Lösungen von
Seiten der Entscheidungsträger:innen in Deutschland und Österreich verpasst wurden, macht den Einsatz von technischen Assistenzsystemen (als Beispiel) noch wichtiger und sinnvoller.

Um zu verstehen, was Pflegefachkräfte wollen, muss man mit ihnen gearbeitet haben und die Grundmotivation, warum sich Menschen für diesen wunderschönen Beruf entscheiden würdigen. Dazu gehört, dass sich Pflegefachkräfte für den Beruf entschieden haben, um AM MENSCHEN zu arbeiten.

Unser Pflegesystem hat das aber über die letzten Jahre mit Reglementierungen und Auflagen erschwert und die Fachkräfte vom Menschen hin zu Nebentätigkeiten gebracht. Moderne Assistenzsysteme müssen also meiner Meinung nach – um einen echten Mehrwert zu liefern – den Fachkräften wieder die Möglichkeit geben, näher an den Menschen zu kommen und mehr Zeit fürs Wesentliche einzuräumen. In diesem Kontext können Assistenzsysteme wie Livy Care einen großen Mehrwert liefern. Assistenzsysteme haben die Möglichkeit, nach einer Studie der Bertelsmann Stiftung, die emotionale und physische Belastung von Pflegefachkräften zu reduzieren und Ausfallszeiten in der Pflege um bis zu 20% zu verringern (durch ein technikgestütztes Arbeitsumfeld). Pflegefachkräfte haben mit Assistenzsystemen ein geringeres Gefühl des Gehetztseins und die Gedanken, den Pflegeberuf zu wechseln, werden durch innovative
Arbeitsumfelder gesenkt. Somit liegt in der technologischen Unterstützung der Fachkräfte heute ein
wesentlicher Schlüssel zur Bewältigung der Herausforderungen des
demographischen Wandels.

2. Glauben Sie, dass wir irgendwann von Robotern gepflegt werden und wenn ja, welche Aufgaben sollen diese erledigen?

Ganz klare Antwort: Nein.

Ich glaube daran, dass Roboter viele Tätigkeiten übernehmen können und werden (in absehbarer Zeit), für die unsere Pflegefachkräfte zu wenig oder überqualifiziert sind. Es gibt meiner Meinung nach keinen Grund, warum eine diplomierte Pflegefachkraft (oder das deutsche Äquivalent) Getränke herumtragen, Betten machen oder sonstige Tätigkeiten unterhalb des Ausbildungsniveaus machen sollte. Hier geht es auch um eine Professionalisierung des Berufsbildes, die ich – im Vergleich zum Diskurs in Deutschland – sehr stark unterstütze.

Man kann es heute schon beobachten: Wir waren im Urlaub an der Ostsee und in einem herrlichen Strandrestaurant am Timmendorfer Strand hat ein kleiner Roboter die Getränke zum Tisch gebracht. Unsere Kinder haben es geliebt und ebenso würden das auch – davon bin ich überzeugt – Senior:innen lieben.

Aber dass z.B. die Grundpflege von einem Roboter durchgeführt wird – die sehr persönlich, intim und emotional ist – kann ich für mich ausschließen. Und das ist überhaupt ein wichtiger Punkt meiner Meinung: technische Assistenzsysteme sollen keine Pflegefachkräfte ersetzen – das ist meine tiefste Überzeugung. Sie sollen die Pflegefachkräfte die es gibt unterstützen und entlasten und ihnen ein innovatives, zeitgemäßes Arbeitsumfeld ermöglichen, damit sie möglichst viel Freude und Langzeitmotivation in diesem wunderschönen Beruf haben. Denn wir werden jede einzelne Pflegefachkraft brauchen.

3. Kennen Sie erfolgreiche Beispiele für die Integration von digitalen Assistenzsystemen in der Betreuung von Pflegebedürftigen?

Ja, ich habe selbst die Impementierung von Livy Care in einer Pflegeeinrichtung in Österreich begleitet. Bereits am dritten Tag nach der Implementierung konnte Livy Care einen schweren Sturz einer Bewohnerin feststellen, die vermutlich den gesamten Nachmittag nicht gefunden worden wäre. Dank Livy Care wurde die Bewohnerin nach drei Minuten gefunden und ins Krankenhaus gebracht und dort versorgt. Mittlerweile ist sie auf dem Weg der Besserung und wieder retour in der Einrichtung.

Da es sich um ein Betreutes Wohnen handelte, hat diese schnelle Reaktionsmöglichkeit doppelte Bedeutung. In Einrichtungen des betreuten Wohnens sind normalerweise nicht immer Mitarbeiter:innen vor Ort. Gleichzeitig wissen wir, dass ein Sturz im Alter schwere Folgen haben kann und oft das Ende der Selbstständigkeit bedeutet. Wenn dann eine Person nicht mehr im Betreuten Wohnen verbleiben kann, hat das auch Auswirkungen auf die Betreiber:in. Denn im schlimmsten Fall muss eine neue Bewohner:in gesucht werden. 

Assistenzsysteme bieten also die Chance, die Selbstständigkeit von Senior:innen länger zu bewahren und selbst im Unglücksfall durch kürzere Reaktionszeiten Folgeschäden oder Schlimmeres einzudämmen oder zu verhindern.

4. Was denken Sie über Telepflege und die Sprechstunde am Computer?

Einsamkeit ist ein großes und oft unter der Oberfläche verborgenes Thema. Gleichzeitig ist die Mobilität vor allem in ruralen Gebieten schwierig zu lösen, wenn das Auto gar nicht mehr oder nur noch eingeschränkt verwendet wird. Für beide Punkte ist Telepflege (oder zumindest Tele-Anamnese) und die Sprechstunde am Computer eine große Hilfe und Unterstützung. Und auch aus Sicht der Pflegefachkräfte bzw. Mediziner:innen. 

Sowohl in Deutschland als auch in Österreich wird viel von der Versorgung der Senior:innen zukünftig davon abhängen, wie man in den ländlichen Regionen die Menschen erreichen und versorgen kann. Hier ist der Flaschenhals die Zeit der Mitarbeiter:innen, die sie sinnlos im Auto oder sinnvoll bei den Betroffenen verbringen. 

Man erinnere sich zurück an die 90er Jahre. Da war es ganz normal, dass der Hausarzt noch Hausvisiten machte wenn man krank war und nicht außer Haus gehen konnte. Kennen Sie das heute noch? Manche Landhausärzte machen das noch, aber nur noch sehr vereinzelt. Nur wie wollen sie die große Zahl von 6 Millionen Pflegebedürftigen, die es 2050 in Deutschland geben soll, adäquat medizinisch und pflegerisch versorgen, wenn nicht durch moderne Technik unterstützt? Und um die Weichen richtig zu stellen, sollte heute bereits damit begonnen werden.

5. Welche Empfehlungen haben Sie für Pflegeeinrichtungen, wenn es um das Thema

Digitalisierung geht?

In Österreich haben wir ein relevantes Thema: die Finanzierung der Digitalisierung von Pflegeeinrichtungen. Die ist nämlich – bis auf wenige Ausnahmen einiger Bundesländer – nicht wirklich geregelt. Soll heißen: es gibt de facto kein Geld für eine Digitalisierung der Häuser. 

Jetzt haben wir die besondere Situation, dass fast 90% der stationären Pflegeeinrichtungen in Österreich bereits digital dokumentieren. Diese Investitionen haben sich die Häuser im wahrsten Sinne des Wortes vom Mund abgespart weil von der Seite der Finanzierer (in Österreich werden 95% der Pflegeeinrichtungen öffentlich finanziert) kein Geld dafür zur Verfügung gestellt wurde. Aber die Anstrengungen der Betreiber:innen in diesem Bereich haben sich ausgezahlt.
Zumindest hier ist Österreich sehr fortschrittlich.

Die Grundlage für jegliche Digitalisierung ist ein gut funktionierendes WLAN in einem Haus. Hier ist also meine Empfehlung: sparen sie nicht bei der Implementierung einer guten WLAN Infrastruktur weil ansonsten jegliche Entwicklungsmöglichkeiten durch Engpässe in diesem Bereich verunmöglicht werden.

Weitere Empfehlung: suchen sie sich positive Multiplikatoren unter ihren Mitarbeitenden, „digital careing natives“ – also junge Pflegefachkräfte die schon digital affin sind – und binden sie diese frühzeitig in neue Digitalisierungsprozesse ein.

6. Wie sehen Ihre persönlichen Wünsche für die ältere Bevölkerung aus? Was würden Sie sich wünschen, das sich für Sie verbessert?

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© Andreas Gruber
Mein Lieblingsthema ist „das gute Leben im Alter“. Dazu gehört abseits passender Infrastruktur mit einer breiten Angebotspalette (nach den Bedürfnissen und Wünschen der Senior:innen) eine professionalisierte Pflege mit ausreichend Mitarbeiter:innen. Damit wir genügend Menschen für den sinnstiftenden Beruf der Pflege begeistern können, braucht es gute und moderne Arbeitsumfelder. Das bedeutet für mich, dass erprobte, zuverlässige und Mehrwert stiftende Technik besser früher als später implementiert werden sollte, um Pflegefachkräfte zu unterstützen und zu entlasten und um Bewohner:innen mehr Sicherheit zu bieten. In weiterer Folge würde ich mir wünschen, dass die Entscheidungsträger:innen die Notwendigkeit einer ausreichenden und langfristigen Finanzierung des Pflege- und Gesundheitsbereichs erkennen mögen und die unglücklichen Debatten über ausreichend Mittel für diesen Bereich, der die kommenden 30 Jahre bestimmen wird, abklingen mögen. Dann würde ich mir noch wünschen, dass sich unsere Gesellschaft auf die Herausforderungen der kommenden „Gerontokratie“ (viele Alte bestimmen das Leben weniger Junger) vorbereitet und wir gute Lösungen finden, die 30% unserer Bevölkerung ausmachen werden. Fazit von Livy Care:  In der Pflege braucht es digitale Vordenker:innen und eine neue Infrastruktur, um den bereits existenten Mangel an Pflegekräften irgendwie auffangen zu können, ohne gänzlich den Boden unter den Füßen zu verlieren. Wie Andreas Gruber bereits richtig deutet müssen digitale Lösungen dabei eine wichtige Rolle einnehmen, um den Fachkräften die Möglichkeit einzuräumen, sich auf ihre Carearbeit zu konzentrieren und sie von unnötigen und nicht pflegebezogenen Tätigkeiten zu entlasten. Wir sind gespannt, wie schnell sich die digitalen Lösungen in der Pflege etablieren lassen.